Title: http://www.gosaunet.at - Text von Gerhard Zeillinger "Gosausee"

Gerhard Zeillinger - Gosausee

Die Spiegelung ist nur die ein wenig andere Zeichnung
vom Gebirge. Der Berg, nicht mehr als ein Ausschnitt,
wäre ein anderer ohne sein Abbild auf dem Wasser.
Nachbarschaftlich liegen sie beieinander, berühren
sich nie und wissen auch nichts von ihrer vermeint-
lichen anderen Hälfte. Nur die Linien führen durch das
ganze Bild, ziehen sich wie ein Blutkreislauf durch
Wellen und Gestein, kreuzen Luft und Wasser : es
ginge ganz leicht, sich zu vermählen, die Elemente zu
vertauschen, auf daß ein neues Bild entstünde. Der
Berg im Wechselrahmen, in welchem sich unbemerkt
seine Ansichten umkehren ließen wie zwei durch
nichts unterscheidbare Überzeugungen, hat alles vom
Glauben der Doppeldeutigkeit – eine Zwillingsgestalt
zu Lande und zu Wasser, der zu ihrer schlitzohrigen
Dreieinigkeit nur noch die Spiegelung in der Luft
fehlte?
Was machen die Felsen im See, die Lärchenhänge
im Wasser, was hat der Gletscher auf dem Seegrund
verloren, das ganze Eis- und Stein- und Erdegemisch,
von Himmels- und Wasserblau umrahmt, vom Bäume-
und Seegrün umwachsen, schillernd wie wirkliche
Farben? Sind das zwei Gebirge, zwei Gletscher, zwei
Himmel? Wo die Linien zusammenfließen und weiter-
wachsen, Erd- und Wasser- und Luftwurzeln gleicher-
maßen sind, eine Lärchendrift, ein Wolkenfaden, ein
wasserwelliger Kalkstrich zwischen die Grün- und
Sepiatöne gelegt, unsichtbar verwoben mit den
Gletscherklüften; an der Grenze zwischen Berg und
Abbild, Stein und Wasser, wo das eine feste Bild endet
und das andere wässerig weiterfließt, von den Wellen
des Sees rhythmisch auseinandergetragen und wieder
zusammengeführt im Wechselspiel von Gegenständ-
lichkeit und Abstraktion : das ist der Dachstein und
seine Spiegelung!
Die Festkörpergestalt und ihr flüssiges Pendant liegen
als Gebirgsstock mit Himmel im See, eine wasser-
farbene Landschaft breitet sich über das im Rahmen
Fixierte und macht das Stein- und Erdreich wasser-
wellig schwingen. Im Widerstand der festen Form
gegen die flüssige erzeugt sein auf den See projizier-
tes Bild die Symmetrie der ihn beschreibenden Linien.
Der bildabschließende Bergkamm oben und unten,
formale Klammer der Natur, durchzogen von den bei-
den Diagonalen von links oben nach rechts unten
und links unten nach rechts oben; in ihrem Schnittpunkt
ruht die quer durch die Bildmitte gelegte Gerade: Ufer-
strich, Anfang und Ende des einen und anderen, die
das Geschaffene in Thesis und Antithesis teilt. So kon-
struiert, gleich dem ingenieurhaften Entstehen auf dem
Reißbrett, die Natur ihr eigenes Bild!
Seine Diagonalen, die das Wasser schneiden, setzen
sich auf dessen Oberfläche fort und zeichnen ein
Scheinbild, das um nichts dem wirklichen nachsteht.
Bild und Abbild, Dreieckslandschaften, die einander in
einer Tangentialgleichung berühren : das sind der Berg
und seine Spiegelung – ohne sie wäre er ein Körper
ohne Schatten, also seelenlos –, das ist ein Hoch-
gebirgs- und Tiefseedachstein, dessen Gletscher
ebenso in windzerklüfteten Eiseshöhen wie auf finste-
rem Meeresgrund weißleuchtend ruht. Verunschärfung
gegenständlicher Spuren, als ginge ein Wanderer über
die Kalkfelsen und Schneefelder und verlöre den Blick
auf das silbrigglänzende Massiv, das da über und
unter ihm thront und liegt : das sind die Linien, die
das Wasser- und Felsenland kreuzen, die seine Fest-
körperstruktur in das Wässrige weiterführen. Das ist
die Spiegelung – Bild seiner Erhabenheit – als
das einzige authentische Abbild des Dachsteins : sie,
wie ein schwereloser Traum losgelöst vom eisigen Ge-
birgsstock darüber, die jeden Augenblick eine andere
ist vom immergleichen Berg; er, der immer derselbe
ist, prosaisch und unverrückbar, als das Gegenbild
jeder luftigen Illusion, festgewachsen im steinernen
Denkmal seiner selbst.
Von Anbeginn – aber wer könnte es erinnern? – ist
sein Gesamtbild ein einziges massives Stilleben der
Natur, sind der Felsstock und sein gespiegeltes Déjà-vu
schon gewesen, bevor noch ein Name war, sein Gan-
zes zu benennen. Was auf dem See eins zu eins vor
ihm daliegt, auf den Kopf gestellte Wiedergabe des
Schönen, ist sein von ihm selbst geschaffenes Eben-
bild, so lebensecht und klar wie er selbst an heiteren
Tagen, als wären er und der andere eben erst in diese
Landschaft gesetzt worden, in einem Schöpfungsakt,
der immer wieder aufs neue geschieht, wenn man vor
sie beide hintritt und den Konturen ihrer beider Gestalt
so hinansieht, daß ihre Linien zu einer zusammen-
fließen – damit endlich zusammenwächst, was
zusammengehört? Erst in der Spiegelung, Replik auf
das Unbegreifliche, kommt der Berg zu sich – Dach-
stein : Doppelblick, so müßte sein Name lauten –, und
würde man ihn abtragen wollen, man müßte auch die
Spiegelung mit sich nehmen und forttragen, die wie
ein getreulicher Schatten unter ihm, ihm willig zu Füßen
liegt, und an einem neuen Ort, zum Beispiel auf einem
Blatt Papier, wieder so zusammensetzen, daß die
beiden Hälften wieder einander berührten und aber-
mals ergänzten. Längst ist der Dachstein über seinem
ergebenen Gosauseebild ein unauflösliches Kunstwerk,
an dem nichts mehr korrigiert werden kann und jeder
Schöpferwille, zu ändern, kläglich zerschellt.

© Gerhard Zeillinger


Diese Seite ausdrucken
Zurück zur regulären Seite...