Die Spiegelung ist nur die ein wenig andere Zeichnung vom Gebirge. Der Berg, nicht mehr als ein Ausschnitt, wäre ein anderer ohne sein Abbild auf dem Wasser. Nachbarschaftlich liegen sie beieinander, berühren sich nie und wissen auch nichts von ihrer vermeint- lichen anderen Hälfte. Nur die Linien führen durch das ganze Bild, ziehen sich wie ein Blutkreislauf durch Wellen und Gestein, kreuzen Luft und Wasser : es ginge ganz leicht, sich zu vermählen, die Elemente zu vertauschen, auf daß ein neues Bild entstünde. Der Berg im Wechselrahmen, in welchem sich unbemerkt seine Ansichten umkehren ließen wie zwei durch nichts unterscheidbare Überzeugungen, hat alles vom Glauben der Doppeldeutigkeit – eine Zwillingsgestalt zu Lande und zu Wasser, der zu ihrer schlitzohrigen Dreieinigkeit nur noch die Spiegelung in der Luft fehlte? Was machen die Felsen im See, die Lärchenhänge im Wasser, was hat der Gletscher auf dem Seegrund verloren, das ganze Eis- und Stein- und Erdegemisch, von Himmels- und Wasserblau umrahmt, vom Bäume- und Seegrün umwachsen, schillernd wie wirkliche Farben? Sind das zwei Gebirge, zwei Gletscher, zwei Himmel? Wo die Linien zusammenfließen und weiter- wachsen, Erd- und Wasser- und Luftwurzeln gleicher- maßen sind, eine Lärchendrift, ein Wolkenfaden, ein wasserwelliger Kalkstrich zwischen die Grün- und Sepiatöne gelegt, unsichtbar verwoben mit den Gletscherklüften; an der Grenze zwischen Berg und Abbild, Stein und Wasser, wo das eine feste Bild endet und das andere wässerig weiterfließt, von den Wellen des Sees rhythmisch auseinandergetragen und wieder zusammengeführt im Wechselspiel von Gegenständ- lichkeit und Abstraktion : das ist der Dachstein und seine Spiegelung! Die Festkörpergestalt und ihr flüssiges Pendant liegen als Gebirgsstock mit Himmel im See, eine wasser- farbene Landschaft breitet sich über das im Rahmen Fixierte und macht das Stein- und Erdreich wasser- wellig schwingen. Im Widerstand der festen Form gegen die flüssige erzeugt sein auf den See projizier- tes Bild die Symmetrie der ihn beschreibenden Linien. Der bildabschließende Bergkamm oben und unten, formale Klammer der Natur, durchzogen von den bei- den Diagonalen von links oben nach rechts unten und links unten nach rechts oben; in ihrem Schnittpunkt ruht die quer durch die Bildmitte gelegte Gerade: Ufer- strich, Anfang und Ende des einen und anderen, die das Geschaffene in Thesis und Antithesis teilt. So kon- struiert, gleich dem ingenieurhaften Entstehen auf dem Reißbrett, die Natur ihr eigenes Bild! Seine Diagonalen, die das Wasser schneiden, setzen sich auf dessen Oberfläche fort und zeichnen ein Scheinbild, das um nichts dem wirklichen nachsteht. Bild und Abbild, Dreieckslandschaften, die einander in einer Tangentialgleichung berühren : das sind der Berg und seine Spiegelung – ohne sie wäre er ein Körper ohne Schatten, also seelenlos –, das ist ein Hoch- gebirgs- und Tiefseedachstein, dessen Gletscher ebenso in windzerklüfteten Eiseshöhen wie auf finste- rem Meeresgrund weißleuchtend ruht. Verunschärfung gegenständlicher Spuren, als ginge ein Wanderer über die Kalkfelsen und Schneefelder und verlöre den Blick auf das silbrigglänzende Massiv, das da über und unter ihm thront und liegt : das sind die Linien, die das Wasser- und Felsenland kreuzen, die seine Fest- körperstruktur in das Wässrige weiterführen. Das ist die Spiegelung – Bild seiner Erhabenheit – als das einzige authentische Abbild des Dachsteins : sie, wie ein schwereloser Traum losgelöst vom eisigen Ge- birgsstock darüber, die jeden Augenblick eine andere ist vom immergleichen Berg; er, der immer derselbe ist, prosaisch und unverrückbar, als das Gegenbild jeder luftigen Illusion, festgewachsen im steinernen Denkmal seiner selbst. Von Anbeginn – aber wer könnte es erinnern? – ist sein Gesamtbild ein einziges massives Stilleben der Natur, sind der Felsstock und sein gespiegeltes Déjà-vu schon gewesen, bevor noch ein Name war, sein Gan- zes zu benennen. Was auf dem See eins zu eins vor ihm daliegt, auf den Kopf gestellte Wiedergabe des Schönen, ist sein von ihm selbst geschaffenes Eben- bild, so lebensecht und klar wie er selbst an heiteren Tagen, als wären er und der andere eben erst in diese Landschaft gesetzt worden, in einem Schöpfungsakt, der immer wieder aufs neue geschieht, wenn man vor sie beide hintritt und den Konturen ihrer beider Gestalt so hinansieht, daß ihre Linien zu einer zusammen- fließen – damit endlich zusammenwächst, was zusammengehört? Erst in der Spiegelung, Replik auf das Unbegreifliche, kommt der Berg zu sich – Dach- stein : Doppelblick, so müßte sein Name lauten –, und würde man ihn abtragen wollen, man müßte auch die Spiegelung mit sich nehmen und forttragen, die wie ein getreulicher Schatten unter ihm, ihm willig zu Füßen liegt, und an einem neuen Ort, zum Beispiel auf einem Blatt Papier, wieder so zusammensetzen, daß die beiden Hälften wieder einander berührten und aber- mals ergänzten. Längst ist der Dachstein über seinem ergebenen Gosauseebild ein unauflösliches Kunstwerk, an dem nichts mehr korrigiert werden kann und jeder Schöpferwille, zu ändern, kläglich zerschellt.
© Gerhard Zeillinger
|
|